wort // Wohlstand & Angst


Bild: Patrick Foellmer // Tobias Schuetze // Copyright

 
Der folgende Text von Patrick Foellmer erschien am 06.11.2015 in der Erfurter Ausgabe der Thüringer Allgemeine Zeitung:

»Jeden Mittwoch Abend versammeln sich derzeit unter der Ägide der AfD besorgte Bürger und angereiste Nazi-Hooligans. Die Inhalte der Podiumsreden sind voll von Deutschtümelei, Ausgrenzungsparolen und Angstpropaganda. An so einem Mittwoch stehe in einer bunten Gegendemons-tration. Ich will ein Zeichen setzen, obwohl ich überhaupt kein Freund solcher Veranstaltungen bin. Doch die braune Hetze auf dem Domplatz und die Gewaltakte in ganz Deutschland gegen Ausländer wie Deutsche haben mich aufgerüttelt. In den Zeitungen der Stadt ist darüber zu lesen, wie es nach den abendlichen Demonstrationen zu gewalttätigen Übergriffen auf den stellvertretenden Bezirksvorsitzenden des DGB Hessen-Thüringen, Sandro Witt, kam. Auch auf Familien, Journalisten und Abgeordnete wurde Jagd gemacht. Was passiert da eigentlich? Natürlich ist die Flüchtlingskrise eine Herausforderung. Aber sie rechtfertigt keine Gewalt.

Zwischen 0,5 und 3 Prozent der Erfurter setzen ein Zeichen gegen Angst und Fremdenhass. Benefizkonzerte werden gegeben, Helfer beteiligen sich aktiv beim Spenden sammeln und bei der Hilfe in den Flüchtlingsunterkünften. Es gibt also durchaus die Erfurter, die Mitmenschlichkeit leben. Aber wo sind sie, die 164 772 Einwohner dieser Stadt im Alter von 18 bis 80? Warum bekennen sich so wenige zu einem mitmenschlichen politischen Diskurs? Von meinen Schülern, die sich gerade auf dem Weg zum Abitur befinden, möchte ich wissen, ob denn das Thema der Fremdenfeindlichkeit in ihren Klassen diskutiert wird. „Nein, eigentlich sprechen wir darüber nicht.“ Auf die Frage, wie sie denn selbst dazu stehen, kommen Begriffe wie abstrakte Zukunftsangst, Angst vor Überfremdung und Verschleierungspflicht. Für Erfurt ist das nahezu paradox: 2014 lebten in Erfurt 9047 Ausländer, also knapp 10 Prozent der Einwohner. Das reicht doch bei Leibe nicht, um Überfremdung im Ansatz zu rechtfertigen! Meine Schüler sind Produkte einer humanistischen Bildungsmaschine, die sich aber eher um das funktionierende Produkt als den Humanismus kümmert. Diskurs findet nicht statt. Und das Ziel ist schon festgelegt: Bekomm einen Job und sichere deine Rente.

Durch Wohlstand bequem und ängstlich geworden

Über die, die derzeit auf dem Domplatz oder andernorts in der Bundesrepublik gegen Flüchtlinge demonstrieren, heißt es ebenso, sie würden hauptsächlich durch die existenzielle Abstiegsangst und die Angst vor Überfremdung auf die Straße getrieben. Da liegt die Frage nahe, was dieses System, in dem wir einen sicheren Job haben wollen und unsere Rente sichern sollen, eigentlich mit uns gemacht hat. Schalten wir die Fähigkeit zur Mitmenschlichkeit aus, wenn Materielles auch nur ansatzweise in Gefahr ist? Und das, obwohl wir so viel haben? Paradoxerweise hat es genau der Wohlstand so weit kommen lassen. Durch ihn sind wir nicht nur bequem geworden, sondern mit Sicherheit auch ängstlich und im Extremfall feindselig. Die Flüchtlingskrise wird Deutschland als Ganzes, jeder Stadt und den Bürgern definitiv Zeit, Energie, Diskussionen und Geld abverlangen. Aber was wäre denn die Alternative? Wollen wir lieber in einem Deutschland leben, das seine Fähigkeit zur Mitmenschlichkeit verliert? Wenn uns etwas wirklich Angst machen sollte, dann ist es das.



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